Berlin-Pläne

Rund neun Stunden nach meiner Abfahrt in Oberkulm komme ich am Hauptbahnhof Berlin an. Ich gehe zu einem Taxi und nenne mein Reiseziel. Bald bin ich in ein Gespräch verwickelt: Der Taxichauffeur war vor Ort, als Anfang Jahr ein Sturm über den kühnen Glas- und Metallbau hinwegfegte. Stolz zeigt er mir auf seinem Handy Fotos vom Schaden, den ein riesiges loses Metallstück in den neuen Bahnhof riss.

„Wohin wollen Se schon wieder?“. „Baerwaldstrasse, Kreuzberg. Das ist zwischen…“. „Danke, danke, ick wees schon, wo det is. Ick hab schliesslich TschiePieEss!“ Am Ziel steige ich aus, prüfe die Hausnummer und bezahle. Nette Gegend: Cafés, Antiquariate, Restaurants. Hier wird es mir gefallen in den nächsten drei Monaten. Dumm ist nur, dass die Schlüssel, die mir die Vermieterin in die Schweiz geschickt hat, nicht passen.

Mehrmals probiere ich alle drei Schlüssel, das Resultat ist immer dasselbe: Es geht nicht. Da stehe ich nun irgendwo in Berlin. Etwas ratlos schleppe ich mein Gepäck zur nächsten Gebäudeecke, wo der Strassenname steht: Bergmannstrasse. Dieser Taxichauffeur: Wenn man die falsche Strasse eingibt, nützt auch kein „Global Positioning System“ und keine richtige Hausnummer.

Was tun? Kein Taxi mehr weit und breit, kein Bus, keine U- oder S-Bahnstation und das Berlin-Buch mit den Karten zuunterst im Koffer. Im nächsten Antiquariat empfiehlt mir der mürrische Verkäufer den „Falkplan“. Ich kaufe ihn und setze mich draussen auf mein Gepäck. „Berlin – 50 Jahre Falkfaltung – 59. Auflage“, steht gross auf dem kartonierten Titelblatt mit dem Brandenburger Tor.

Ich belege die ganze Breite des Gehsteigs mit meinem Berlin-Plan, der mit einem Dutzend Schlitzen versehen ist, damit er in Flächen auffaltbar wird, die kleiner sind als eine Hand. Alles sicherlich sehr ausgeklügelt – 50 Jahren Falkfaltung – , aber wo sind die verdammten Rechtecke QR 8, in denen sich die Baerwaldstrasse befindet? Nach gefühlten 50 Minuten Herum-Falkfaltung stelle ich fest, dass die Baerwaldstrasse nur ein paar Schritte entfernt ist.

Endlich an der richtigen Adresse angelangt, mampfe ich ein Sandwich, richte mich notdürftig ein und lese in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Der Protagonist des Romans, Franz Biberkopf, wird aus dem Gefängnis entlassen und orientiert sich neu im Leben. Zufällig trifft er den ihm unbekannten Nachum, der ihm angedeihen lässt, was Döblin mit „Belehrung durch das Beispiel des Zannowich“ bezwischentitelt.

Vater und Sohn Zannowich sind keine Lichtgestalten, sie sind Gesetzesbrecher wie Biberkopf. Etwas aber zeichnet beide – in den Worten Döblins/Nachums – aus: „Wodurch ist der Zannowich weitergekommen, der junge wie der alte? Ihr meint, sie haben ein Gehirn gehabt, sie sind klug gewesen. Sind noch andere klug gewesen und waren mit achtzick Jahren nicht so weit wie Stefan mit zwanzick. Aber die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füsse. Man muss die Welt sehen können und zu ihr hingehen.“

Ich selber bin nicht planlos nach Berlin gekommen: Schwarz auf weiss habe ich ein Schreib-Ziel formuliert. Auf dem Weg dazu brauche ich vor allem schwarzen Kaffee, weisse Milch und das GPS in meiner grauen Hirnrinde. Falls, wenn, sobald ich das Ziel erreiche, will ich den Rat Nachums befolgen: Mit offenen Augen durch Berlin gehen.

Ein Taxi möchte ich eher nicht mehr benutzen.

Markus Kirchhofer, Lehrer und Autor aus Oberkulm, verbringt einen dreimonatigen Schreibaufenthalt in Berlin.