Die Sternwanderung unserer Schule führt in den „Erlebnispark Wald“ nach Hirschthal. Von einer Holzbergbahn wird unsere Klasse zum Holzweg durch 400 Jahre Waldnutzung gezogen. Die Kinder stehen Kaugummi kauend im Wald und wir Lehrer versuchen wort- und gestenreich, mit ihnen auf eine Zeitreise ins Holz zu gehen. Wir sind auf dem Holzweg.
Spektakulärer ist, auf der Rutschbahn durch den Buchenwald zu rasen oder auf dem Baumwipfelweg das Brett unter den Füssen und damit den Boden unter dem Maschendrahtzaun zum Schwanken zu bringen. Vorbei an geschwärzten Männern, die die Holzkohle des durchgebrannten Kohlenmeilers in Säcke abfüllen, erreichen wir den Baumturm. Auf Baugerüsten steigen wir einer Lärche entlang empor, bis wir zu den obersten Ästen gelangen.
Dort bietet sich ein Rundblick über die Baumwipfel, der Luca, dem Klassenersten auf dem Turm, die Sonnenbrille von der Nase und die „Pussycat Dolls“ aus den Ohren nehmen lässt. Tief atmend blickt er in die Ferne, dann dem Stamm entlang in die Tiefe, dann in die Festzeitung. Er murmelt mehr zu sich selber als zu seinen nach und nach eintreffenden Klassenkameraden: „Dieser Baum ist gleich alt wie mein Vater.“
Kurz vor Vaters fünfundachtzigstem Geburtstag haben wir zu zweit das Haus besucht, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Es steht auf einer der zahlreichen Anhöhen in Gotthelfs Gemeinde, die im Wappen sechs grüne Tannen auf sechs silbernen Hügeln trägt. Dort hat Vater das Bauern gelernt. Als ältester von drei Brüdern durfte er weggehen, um Käser zu lernen. Heute führt ein Bauernlehrpfad am Hof vorbei.
Hinter dem Wohnhaus, am Abhang, steht seit Generationen eine mächtige Linde, die nicht nur die angelehnte Holzbeige, sondern das ganze Heimet gegen das Abrutschen in den Chrachen zu bewahren scheint. „Als Buben haben wir tagelang Lindenblüten gepflückt, sie auf dem Spycherboden getrocknet und beim Schneider gegen Stoff getauscht“, erinnert sich mein Vater, „zwei lange Leitern haben wir aufeinander gebunden, um in die duftende Baumkrone zu gelangen.“
Am Vorabend der Sternwanderung stosse ich in „Die wilden Götter – Sagenhaftes aus dem hohen Norden“ auf die Esche Yggdrasil. Die Mythologie, verfasst vom Norweger Tor Age Bringsvaerd, schöpft aus isländischen Quellen. Die deutsche Übersetzung von Tanaquil und Hans Magnus Enzensberger erschien 2001 in Enzensbergers „Anderer Bibliothek“. Sie hat die Götter des nordischen Olymps aus dem rechtsextremen Schatten ans Licht geholt.
„Willst du die Welt verstehen, musst du die Weltesche Yggdrasil verstehen“, wird dem sehnsüchtig nach Erkenntnis strebenden Göttervater Odin glaubhaft versichert. Odin stösst sich einen Speer durch den Brustkasten und hängt sich daran hoch in Yggdrasil, tagelang. Durch sein Leiden gelangt Odin an die Grenzen der Wirklichkeit. Er spricht mit den Toten. Er erfährt, dass alle Namen etwas bedeuten für den, der ihnen nachhorcht. Genügend abgehangen, lernt er schliesslich, Runen ins Holz zu ritzen, geheimnisvolle, mächtige Zeichen.
Nach dem Mittagessen ritzt Luca mit dem Sackmesser gedankenverloren etwas in den Holzweg vor sich. Beim Weggehen entziffere ich seine Runen: LEA.
Markus Kirchhofer ist Lehrer und Autor. Er unterrichtet in Othmarsingen und lebt in Oberkulm.