Beim Morgenessen betrachteten sie nochmals die Danksagung zum Tod ihres Schwiegersohnes. Die Einleitung gefiel ihnen, obwohl Gott darin nicht vorkam:
„So wie der Wind mit den Bäumen spielt,
so spielt das Schicksal mit den Menschen.
Man sieht sich, lernt sich kennen,
gewinnt sich lieb und muss sich trennen“.
Arme Tochter, arme zwei Enkelinnen. Sie hatten ihnen so Leid getan, als sie schluchzend vor dem Grab standen und sich gegenseitig stützten. Der Hirntumor hatte dem sportlichen Schwiegersohn keine Chance gegeben, nicht die geringste.
Doch genug der trüben Gedanken, das Leben musste ja irgendwie weiter gehen. Das ältere Ehepaar hatte einiges vor an diesem herrlichen Spätsommertag: zwei Butterzöpfe backen für den Missionsbasar, die Buchenhecke schneiden, die Bienenvölker füttern, Bekannte im Altersheim besuchen. Doch zuerst die alltäglichste Hausarbeit: Küche aufräumen und Betten machen. Dabei ist es passiert: Im Schlafzimmer wurde die Frau von einem Hirnschlag niedergestreckt.
Auf der Intensivstation bekam der Mann eine Ahnung, was der Hirnschlag im Innern der Körperhülle seiner Frau angerichtet hatte: aus dem verzerrten rechten Mundwinkel rann Speichel, das linke Auge war geschlossen. Grösstenteils gelähmt ein Bein, ganz gelähmt der rechte Arm. Ihre verbalen Kommunikationsversuche blieben bis auf die Worte „aus heiterem Himmel“ unverständlich.
Beim Wechsel von der Intensiv- auf die medizinische Station wurde sie durch die bunkerartigen Kellergänge gerollt, überholt von Transportwagen mit Esswaren. Sie war eingewickelt in eine Decke, der Ehemann sah lediglich ihre Füsse mit den gepflegten Zehennägeln und ihren Kopf. In der Nase der Schlauch für die künstliche Nahrung, die Haare, sonst stets sorgfältig gekämmt, struppig abstehend. Aus heiterem Himmel.
An einem der folgenden, langen Abende suchte der einsam gewordene Mann zu Hause nach neueren Fotos, die seine Frau noch unversehrt zeigten. Die jüngsten hatte einer der längst erwachsenen Söhne gemacht: An einem Sonntag waren sie mit ihm und seiner Frau im Wald spazieren gegangen. Dabei stiessen sie auf eine Tanne, in die der Blitz geschlagen hatte. Die Tanne stand noch, obwohl von oben bis unten fast die Hälfte davon abgespalten war. Die Tanne nach dem Blitzschlag: Das Bild zur Ehefrau nach dem Hirnschlag.
Tage später sind zwei Logopädinnen im Spitalzimmer, als der Mann seine Frau besucht. Ihr rechter Unterarm liegt auf einer Decke wie ein toter Balchen auf der Zeitung. Die Sprachtherapeutinnen empfehlen ihm die Lektüre von „Aphasie – eine kurze Orientierung“. Nach der Sprachtherapie ist die bald 75-jährige Logopädie-Schülerin deprimiert. Die Unverständlichkeit der Buchstaben haben sie erschöpft, die vergebliche Suche nach Begriffen haben sie gedemütigt. Weinend verabschiedet sich das Paar, das einander seit über 40 Jahren zur Seite steht. Aus heiterem Himmel.
In der Rehaklinik sieht der Mann seine Frau erstmals seit dem Niederschlag wieder stehen. Entlang eines Fensterbretts, aufgestützt auf die Physiotherapeutin und einen Stock, kann sie unter Anleitung ein paar Schrittchen machen, wenn ihr die Therapeutin den rechten Fuss nachschiebt. In der Ergotherapie wird weiter am Zähneputzen gearbeitet.
Meine bisherigen Kolumnen hatten leichte, lebensfrohe Themen wie Rockmusik, Fussball oder Klassenzusammenkunft. Diesmal hatte ich Mühe, ein ähnliches Thema zu finden: Die Frau, in die der Blitz geschlagen hat, ist meine Mutter.
Markus Kirchhofer, Oberkulm, ist Lehrer, Autor – und Sohn und Bruder.