Als Dank für ausgeliehene Bücher schenkte mir ein Lehrerkollege den Fotoband „Paris mon amour“. All die Cartier-Bressons und Doisneaus haben mein Fernweh (oder ist es Heimweh?) geweckt: Ich fahre mit der Liebsten hin.
In der Marktstrasse riecht es nach süssen Religieuses und salzigen Coquilles St. Jacques. Werktätige aus den Redaktionen und Textilläden machen am Zinc des Strassencafés kurz Halt und kippen eine „Noisette“. Die Metzgerei, zu der jeden Morgen blutige Rinderviertel getragen wurden, hat einer Wellnessoase mit esoterischer Musik Platz gemacht. Auch das Internetcafé ist weg, ein Restaurant lockt an seiner Stelle mit Austern-Auslagen.
In der Wechselausstellung im neuen Gebäude der Cinémathèque Française werden Gemälde Pierre-Auguste Renoirs Filmprojektionen Jean Renoirs gegenüber gestellt. Dieselben Motive bei Vater und Sohn: Südliche Landschaften, weibliche Schönheiten und ausgelassene Feste. Paris mon amour.
Aus dem Sonnenschein der Parkanlage beim Forum des Halles treten wir ins Dunkel der Kirche St. Eustache. Die Handwerker haben die Renovationsarbeiten unterbrochen und mampfen ihre Sandwiches, eine Touristin telefoniert lautstark. In einer der Seitenkapellen modern die Reliquien des römischen Märtyrers Eustache, in der Kapelle daneben beklagt die Skulptur „Der Auszug von Früchten und Gemüse aus dem Herzen von Paris“ den Abbruch der alten Hallen.
Im Chor des Baus mit der Grundfläche eines Fussballfeldes liegt ein blumengeschmückter Holzsarg. Der Pfarrer blättert minutenlang in der Bibel, bis er das Wort an die knapp zwei Dutzend Angehörigen des Verstorbenen richtet, die sich aus einem Meer von Holzstühlen erhoben haben. Die Tauben hoch oben auf den Säulen scheissen drauf. Tief unten im Boden rattert die Metro. Paris mon destin.
In der heruntergekommenen Strasse, unterhalb der Klingel, unter dem aufgeklebten Namen des aktuellen Mieters, sind Anfang und Ende unserer Namen zu erkennen. Der Kellner im Bistro behauptet, sich an uns zu erinnern. Bei Suze, Pastis und Pistazien fragen wir uns, weshalb gerade über der schmutzigen Seine, in der rauchigen Brasserie und im düsteren Hotelzimmer Liebesworte so leicht über unsere Lippen kommen. Paris et mon amour.
In der Métro werden die Geschäftsleute, die vor uns die Treppen hinunter steigen, von fünf Polizisten mit gebieterischen Anweisungen gefilzt. Den Weg zur Schule, die ich damals besuchte, lege ich im Hundekot-Slalom zurück. Der Eintritt zum Innenhof wird mir verwehrt, dafür ist auf dem Vorplatz eine Fotoausstellung zu sehen: „Sorbonne ouverte“. Paris ma salope.
Das „Centre Pompidou“ zeigt eine Dadaismus-Ausstellung, die den ganzen sechsten Stock und einen Ausstellungskatalog von mehr als 1000 Seiten füllt. Tristan Tzara, der vermutlich meistgenannte Name in der Ausstellung, gibt folgende Bastelanleitung für ein Dada-Gedicht:
„Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die ihr eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird euch ähneln.“
Paris mon dada.
P.S. Kolumnen eignen sich vorzüglich als dadaistisches Rohmaterial.
Markus Kirchhofer ist Lehrer und Autor aus Oberkulm. 1992/93 studierte er in Paris.