Auf dem Weg ins Schulzimmer hängen Porträts aller Schülerinnen und Schüler. Die frontalen Ganzkörperumrisse sind gefüllt mit verschiedenen Farben. Unten auf dem A4-Blatt die Legende: Jeder Farbe ist eine Sprache zugeordnet. Oben der Titel der Arbeit: „Sprachbild“.
Heiner hat seinen Körper mit Farben für Mundart, Hochdeutsch, Englisch und Französisch gefärbt. Kopf, Herz, Hand und Bauch leuchten in oranger Mundart. Die Hüftgegend ist blau gleich Englisch. Weshalb? „Na ja, vieles, was ich so aus der Hüfte geschossen sage, ist Englisch: Easy, cool und so.“ Französisch grün sind lediglich die Zehenspitzen. „Das brauche ich halt selten“, meint Heiner.
Venhar betont die über das linke Ohr gedrehte Schirmmütze und die heraufgekrempelten Hemdsärmel. Oberkörper und Kopf leuchten in rotem Albanisch, das Herz ist zweifarbig: Albanisch und Schweizerdeutsch. Beine und Füsse sind Englisch und Hochdeutsch: „Diese zwei Sprachen werde ich zum Vorwärtskommen brauchen“, erklärt er.
Die neue Aufgabe ist eine bildliche Umsetzung der eigenen Abstammung: Ein umgekehrter Stammbaum bis zu den Grosseltern. In oder auf den Stamm kommt der eigene Name, der Geburtsort und die Muttersprache, weiter oben die Namen, Geburtsorte und Muttersprachen der Eltern, in der Krone dieselben Angaben zu den Grosseltern.
Im schönen Buch „Baumzeit“ von Verena Eggmann und Bernd Steiner zeige ich ein paar bäumige Orientierungsmöglichkeiten, dann machen sich die Kinder ans Werk. Bei den Angaben zu den Grosseltern stehen anfangs etliche Fragezeichen. Die meisten werden in der Pause mit einem Handy-Anruf beseitigt. Langsam wachsen die Bäume auf den Zeichenblättern.
Urs’ Stammbaum ist eine Eibe mit rundlicher Verdickung über dem Boden. In diese Verdickung schreibt er seinen Geburtsort Muri sowie seine Muttersprache „Aargauer Dialekt“. Die Angaben zu seinen Eltern stehen auf Brettern, die in Seitenäste eingewachsen sind. Bei seinem Vater Kurt steht ebenfalls „Aargauer Dialekt“, bei seiner Mutter „Zürcher Dialekt“. Im Laub der Krone Grossmutter Gertruds und Grossvater Walters Muttersprachen: „Rheintaler Dialekt“ und „St. Galler Dialekt“. Hinter dem Stammbaum weitet sich der Blick auf offenes Wasser. „Ich sehne mich nach dem Meer, schon immer“, erläutert Urs.
Auch auf Iris’ Zeichnung ist das Meer: Im Hintergrund links ist ein Sandstrand mit einer Palme. Neben den Kokosnüssen prangt die rot-weisse Indonesische Fahne. Im Hintergrund rechts erheben sich spitze Alpengipfel, darauf weht eine rot-weisse Schweizer Fahne. Der Stammbaum, ein knallgrüner Kaktus mit roten Blüten, gibt Aufschluss: Iris’ Mutter ist in Indonesien geboren, Iris’ Vater in Brunnen.
Ebenfalls in der Innerschweiz zur Welt gekommen ist Maschas Vater Melchior. Maschas Mutter stammt aus Sumy in der Ukraine, ihr Grossvater Anatol-Geydarawitsch Dadashav aus Baku in Aserbeidschan. Angelas Stammbaum ist ein wuchtiger Baobab. Ihre Mutter Laura ist in Mosambik geboren, ihr Vater Fritz im Kanton Bern.
Bald werden auch die Stammbäume die Schulwände zieren. Die Kinder selber wachsen weiter. Als Lehrer leiste ich zu ihrem Gedeihen nur einen sehr beschränkten Beitrag, den aber entschieden anmassend: Als Gärtner der Sprachenvielfalt zum Beispiel.
Markus Kirchhofer ist Lehrer und Autor aus Oberkulm. Er unterrichtet in Othmarsingen.